Wurzeln der Geistlichen Übungen (Exerzitien):

Historisch - biographisch.

Gibt es Quellen für die Geistlichen Übungen?
Wie ist Ignatius darauf gekommen? Der Sekretär des Ignatius, P. Câmara schreibt 1555 am Ende des Pilgerberichtes (=PB), den ihm Ignatius diktiert hat, über die Entstehung der Exerzitien:
"Nachdem er diese Dinge erzählt hatte, fragte ich um den 20. Oktober den Pilger über die Übungen und die Satzungen. Ich wollte erfahren, wie er sie verfaßt habe. Er sagte mir, dass er die Übungen nicht alle auf einmal verfaßt habe, sondern dass ihm von den wenigen Dingen, die er in seiner Seele beobachtete und die er nützlich fand, schien, dass sie auch anderen nützlich sein könnten; und so schrieb er sie nieder, zum Beispiel die Erforschung des Gewissens in jener Weise mit den Linien usw. Die Wahlüberlegungen insbesondere, sagte er mir, habe er aus jener Verschiedenheit des Geistes und der Gedanken gewonnen, die er hatte, als er in Loyola war, während er noch am Bein krank war". (PB 99)
Eindeutig bezeugt Ignatius selber in seinem Pilgerbericht (vgl. PB 5), dass er in den Monaten seiner Genesung in Loyola mangels anderer Lektüre eine Heiligenlegende (die legenda aurea von Jacobus de Voragine) und vor allem das "Leben Jesu Christi" des Kartäusers Ludolf von Sachsen in spanischer Übersetzung, las, studierte und meditierte.
"Indem er sich um nichts kümmerte, verharrte er bei seiner Lektüre und bei seinen guten Vorsätzen. Und die Zeit, die er mit den Hausbewohnern verkehrte, verwandte er ganz auf Dinge Gottes, womit er ihren Seelen Nutzen bewirkte. (PB 11)
Und da er viel Geschmack an jenen Büchern fand, kam ihm in den Sinn, einige wesentlichere Dinge aus dem Leben Christi und der Heiligen in Kürze herauszuschreiben. Und so begibt er sich daran, mit viel Sorgfalt ein Buch zu schreiben, welches etwa 300 Seiten hatte, alle im Quartformat beschrieben,
- denn er begann bereits, ein wenig im Haus herum aufzustehen -: die Worte Christi mit roter Tinte, die unserer Herrin mit blauer Tinte; und das Papier war geglättet und liniert; und mit schöner Schrift, da er ein sehr guter Schreiber war."
Von diesen Anfängen des Exerzitienbuches 1521 bis zur endgültigen päpstlichen Bestätigung des lateinischen Textes am 31. Juli 1548 durch Papst Paul III. sollte allerdings eine lange Entwicklung der Redaktion stehen.

Erfahrungen am Montserrat
1522 kam Ignatius bei seinem Aufenthalt in dem Benediktinerkloster am Montserrat wahrscheinlich mit den Schriften des Abtes Cisneros in Berührung. So lernte er wohl auch das "Exercitatorio de la vida espiritual" von García de Cisneros kennen, wo sich auch  der Begriff der geistlichen Übungen findet. Cisneros wollte damit die Devotio moderna, eine Frömmigkeitsausrichtung, die gegen Ende des 14. Jahrhunderts in den Niederlanden entstanden war, weiter verbreiten. Aus diesen Kreisen stammen  z.B. die Bücher von der Nachfolge Christi, deren Lektüre Ignatius in EB 100 empfiehlt.

Größer ist der Einfluss des Kartäusers Ludolf von Sachsen.
 Dieser wurde um 1300 in Norddeutschland geboren und trat 1340 in die Kartause von Straßburg ein. Von 1343 bis 1348 war er Prior der Kartause in Koblenz, bevor er in die Kartause von Mainz übersiedelte. Dort hat er das Leben Jesu Christi geschrieben und sehr wahrscheinlich vor 1368 fertiggestellt. Er starb am 10. April 1377 oder 1378 im Ruf der Heiligkeit. Mit vielen Übersetzungen und Auflagen wurde das Leben Jesu Christi das meistgelesene Erbauungsbuch des Spätmittelalters (vgl. W. Baier, Art. Ludolph de Saxe.In: DictSpir IX (1976) 1130-1138, hier 1130 f; O.Karrer, Die große Glut. München 1926,370).
P. Andreas Falkner hat in der Zeitschrift "Geist und Leben" 1988, Heft 4 unter dem Titel "Was las Inigo de Loyola auf seinem Krankenlager" einiges darüber geschrieben und auch das Vorwort zum "Leben Jesu Christi" von Ludolf von Sachsen auf deutsch übersezt. Dort kann man vieles finden, wovon Ignatius geprägt wurde und woraus er manches in das Exerzitienbuch einfließen ließ.
P. Falkner schreibt: "Eine gewisse literarische Abhängigkeit der Exerzitien vom "Leben Jesu Christi" ist nicht zu leugnen. Sie ist in zahlreichen Studien, in denen die "Quellen" der Exerzitien erforscht wurden, aufgezeigt worden. Die so nachgewiesenen Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen der beiden Texte bestehen meistens in verwandten Ausdrücken, in Besonderheiten, die fromme Überlieferungen der Vorfahren enthalten, und bisweilen in ähnlichen Weisen der Interpretation von Evangelienperikopen. Sie erstrecken sich vor allem auf die "Zweite, Dritte und Vierte Woche" der Exerzitien. Auch wenn diese Studien viele Berührungspunkte der Exerzitien mit Ludolfs Text nachweisen, gehen sie doch nicht auf die tiefere Schicht der tatsächlich gegebenen Verwandtschaft ein.
Allein schon das Vorwort zum Leben Jesu Christi enthält auffallend viele Ähnlichkeiten mit den Exerzitien in der theologischen Sicht des Heilsgeschehens, in der Empfehlung, wie die Heilsereignisse zu aktualisieren sind, und in der Methode der Übungen die persönliche Betroffenheit auslösen und zur Umkehr führen sollen.
Sosehr solche Anklänge die Vermutung nahelegen, Ignatius habe Teile aus Ludolfs Werk abschreibend übernommen, läßt sich der Einfluß, den das Leben Jesu Christi auf die Exerzitien ausgeübt hat, vor allem daraus ableiten, dass sich Ignatius von dem, was von  dem Kartäuser im Vorwort zu seinem Werk gesagt und angeraten wird, herausfordern ließ, es vollzogen und so in sich lebendig aufgenommen hat."
Grade für die Betrachtung der Geheimnisse Christi - die contemplación - fand er dort viel Anregung: methodisch: "Wenn du hingegen aus den Betrachtungen Frucht schöpfen willst, sollst du mit der ganzen Hingabe deines Herzens aufmerksam, zum Verkosten bereit, langsam, ohne dich um etwas anderes zu sorgen oder zu kümmern, dich dem, was durch den Herrn Jesus gesagt oder getan wurde ... so zuwenden, als wärest du gegenwärtig, als würdest du es mit eigenen Ohren hören und mit deinen Augen sehen. Das ist für den, der mit Sehnsucht daran denkt, und noch mehr für den, der es zu verk
ten weiß, überaus angenehm. Wenngleich viel davon als Geschehen der Vergangenheit erzählt wird, sollst du doch alles so betrachten, als geschehe es in der Gegenwart, weil du dadurch zweifellos ein größeres Maß an Süßigkeit zu spüren bekommst (Ludolf, Vorwort Kap.11)." Inhaltlich: Z.B. "Nähere dich ihm mit ehrfürchtigem Herzen, damit du für den, der aus dem Schoß des Vaters in den Leib der Jungfrau hinabsteigt mit dem Engel der Menschwerdung gewissermaßen ein weiterer Zeuge in reinem Glauben werdest. Beglückwünsche die Jungfrau-Mutter, die deinetwegen schwanger wird. Sei bei seiner Geburt, bei seiner Beschneidung mit Joseph wie ein guter Nährvater dabei. ..."Ehrfürchtig und aufmerksam ertaste und berühre die einzelnen Wunden deines Erlösers, der um deinetwillen so gestorben ist..."
Auch für die Übung der Exerzitien, sich den Ort vorzustellen, wo etwas geschieht, konnte er viele Anregungen in dem Vorwort bei Ludolf finden. (Kap.10). Auch die Idee ins Heilige Land zu pilgern, um die Orte kennen zu lernen, wo Jesus gelebt und gewirkt hat, wird für die Abfassung der Exerzitien einiges beigetragen haben.

Geistliche eigene Erfahrungen
Wichtiger jedoch als die äußeren Quellen, die Ignatius in den geschichtlichen Strom der Frömmigkeit einfügen, sind seine inneren geistlichen Erfahrungen, die auf seinem Krankenbett in Loyola beginnen in der Entdeckung der verschiedenen Geister, die ihn wegen - bis zu seinen tiefen Gebetserfahrungen in Manresa.
So heißt es: "Er ging vom Weg ab in ein Dorf, das Manresa heißt. Und dort beschloß er, einige Tage in einem Spital zu sein und auch einige Dinge in seinem Buch anzumerken, das er sehr behütet bei sich trug und mit dem er sehr getröstet ging. (PB 18)

Die Verschiedenheit der Geister: Zwischen Trost und Trostlosigkeit
PB 21   "Doch begann er bald nach der oben genannten Versuchung, große Verschiedenheiten in seiner Seele zu haben. Er fand sich die einen Male so mürrisch, dass er weder Geschmack am Beten noch am Messehören noch an irgendeinem anderen Gebet fand, das erhielt. Und andere Male kam es ihm so sehr im Gegensatz dazu und so plötzlich, dass es schien, die Traurigkeit und Trostlosigkeit sei von ihm genommen, wie wenn einem jemand einen Mantel von den Schultern nimmt. Und hier begann er, sich über diese Verschiedenheiten zu entsetzen, die er niemals zuvor erfahren hatte, und bei sich zu sagen: "Was ist das für ein neues Leben, das wir jetzt beginnen?"

Gott selbst ist sein Lehrer
PB 27 "In dieser Zeit behandelte Gott ihn auf die gleiche Weise, wie ein Schullehrer ein Kind behandelt, wenn er es unterweist. Und sei es, dass dies wegen seiner Ungebildetheit und seines groben Verstandes war oder weil er niemanden hatte, der ihn unterwiesen hätte, oder wegen des festen Willens, den ihm Gott selbst gegeben hatte, ihm zu dienen: Er urteilte deutlich und hat immer geurteilt, dass Gott ihn auf diese Weise behandelte; ja, wenn er daran zweifelte, würde er meinen, seine göttliche Majestät zu beleidigen. Und etwas davon kann man an folgendem sehen."

PB 30  "Fünftens: Einmal ging er aus seiner Andacht zu einer Kirche, die etwas mehr als eine Meile von Manresa lag - ich glaube, sie heißt St. Paul -, und der Weg geht den Fluß entlang. Und während er so in seinen Andachten ging, setzte er sich ein wenig mit dem Gesicht zum Fluß, der in der Tiefe ging. Und als er so da saß, begannen sich ihm die Augen des Verstandes zu öffnen. Und nicht, dass er irgendeine Vision gesehen hätte, sondern er verstand und erkannte viele Dinge, ebensosehr von geistlichen Dingen wie von Dingen des Glaubens und der Wissenschaft. Und dies mit einer so großen Erleuchtung, dass ihm alle Dinge neu erschienen. Und es lassen sich nicht die Einzelheiten erläutern, die er damals verstand, obwohl es viele waren; sondern er empfing eine große Klarheit im Verstand, so dass ihm in der ganzen Folge seines Lebens bis über zweiundsechzig Jahre hinaus scheint: Wenn er alle Hilfen zusammenzähle, wie er sie von Gott erhalten habe, und alle Dinge, die er erkannt habe, selbst wenn er sie alle in eins zusammenbringe, habe er nicht so viel erlangt wie mit jenem Mal allein.
Und dies bedeutete, in so großem Maß mit erleuchtetem Verstand zu bleiben, dass ihm schien, als sei er ein anderer Mensch und habe eine andere Erkenntnisfähigkeit, als er zuvor hatte."

Zum Kern der Exerzitien in dieser Zeit gehören die Meditationen und Kontemplationen der Vier Wochen, besonders jene vom "Reich Christi" und von den "Zwei Bannern" und ihre Methoden (die drei Seelenkräfte, Anwendung der Sinne, Kontemplationen), die besondere Erforschung und die Allgemeine Erforschung, die drei Gebetsweisen, einige Regeln über die Unterscheidung der Geister in der Ersten Woche, die Regeln der Wahl.

Erste Erfahrungen mit dem Geben der Übungen und die Begegnung mit der Inquisition.

Nach diesen eigenen Erfahrungen beginnt Ignatius später zur Zeit seines Studiums in Alcalá (1526) auch anderen die Übungen zu geben: "Und als er in Alcalá war, übte er sich, geistliche Übungen zu geben und die christliche Lehre zu erläutern; und damit entstand Frucht zur Ehre Gottes". (PB 57)
In Salamanca wurde er 1527 wegen dieser Tätigkeit von der Inquisition verhört, in den Kerker gebracht und an eine Kette gelegt. Da heißt es dann:
"Der Bakkalaureus Frías kam zu ihnen, um jeden für sich zu verhören, und der Pilger gab ihm alle seine Papiere: Es waren die Übungen, damit man sie überprüfe. (PB 67) Das Ergebnis dieser Prüfung: "Nach zweiundzwanzig Tagen, die sie gefangen waren, riefen sie, das Urteil zu hören. Es besagte, dass sich kein Irrtum fand, weder in Leben noch in Lehre. Und so konnten sie tun, was sie zuvor taten, in der Lehre unterweisen und von Dingen Gottes sprechen; nur dürften sie nie festlegen: dies ist Todsünde oder dies läßliche Sünde, bevor nicht vier Jahre vergangen seien, in denen sie mehr studiert hätten. Nach der Verlesung dieses Urteils zeigten die Richter viel Liebe, wie als wollten sie, dass es angenommen werde. Der Pilger sagte, er werde alles tun, was das Urteil gebiete, aber er nehme es nicht an. Denn ohne ihn in irgendeiner Sache zu verurteilen, schließe man ihm den Mund, dass er nicht, worin er könne, den Nächsten helfe. Und so sehr auch Doktor Frías, der sich sehr zugeneigt zeigte, darauf bestand, sagte  der Pilger nur, solange er im Jurisdiktionsgebiet von Salamanca sei, werde er tun, was ihm geboten werde."(PB 70)

Die Studienzeit von Paris (1528-1535)
In dieser Zeit gibt es bedeutende Erweiterungen für das Exerzitienbuch. Manches ist auf das Studium zurückzuführen, anderes auf die Reaktion der Umgebung oder auf Gespräche mit den ersten Gefährten: dazu gehören nach André Ravier die "Anweisungen", die Vorbemerkung" EB 22, "Prinzip und Fundament", die "Drei Menschengruppen", die "Drei Weisen der Demut", die "Kontemplation um Liebe zu erlangen", die erklärenden Anmerkungen und Zusätze und weitere Regeln zur Unterscheidung der Geister.
Weitere Teile entstehen in der Zeit des apostolischen Wirkens der ersten Gefährten in Oberitalien (1536-37). Das sind die "Regeln über die Almosenverteilung" und "Regeln für das wahre Gespür, das wir in der streitenden Kirche haben müssen"
Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, dass Ignatius lange und sorgfältig und mit öfteren Korrekturen an dem Text gearbeitet hat, bis dieser endgültig durch Papst Paul III. am 31.Juli 1548 approbiert wurde. In dieser Zeit musste er viele Verdächtigungen  zurückweisen, ein Sektierer oder Häretiker zu sein. Aber grade so konnte dieses Werk erprobt werden und später bis heute zu einem der wichtigsten Werkzeuge der Seelsorge werden.

Gundikar Hock sj in Canisius, Mitteilungen der Jesuiten, Pfingsten 2002