Zusammen bleiben

 

Seit elf Jahren lebe ich in Berlin-Kladow unter alten Mitbrüdern. Sie verbringen hier im Peter-Faber-Haus ihren Lebensabend. Inzwischen bin ich mit meinen siebzig Jahren selbst in ihre Reihen aufgerückt. Für die jungen Mitbrüder, die in den zurückliegenden Jahren in meiner Begleitung ihr Tertiat absolvierten, war die geballte Gebrechlichkeit, der sie hier begegneten, stets eine Herausforderung. Sie bekamen Anschauungsunterricht über das Altwerden im Orden. So konnten sie auch mitbekommen, wie denn das in diesem Lebensabschnitt ist mit dem ignatianischen Stichwort, dass wir Jesuiten "Freunde im Herrn" sein sollen. Man sagt, dass gerade unter den Älteren früher die Gefühle als nicht so wichtig angesehen wurden. Auch die gelebte Gemeinschaft mag oft eher ein Klub von Individualisten gewesen sein, vielleicht sogar ideologisch gerechtfertigt durch die Angst vor zu engen menschlichen Beziehungen.

Tatsächlich zeigt sich die Freundschaft unter alten Jesuiten nicht in überbordenden Gefühlsausbrüchen oder in ständigen Beteuerungen, dass man sich lieb habe. Kennzeichnend ist eher eine herbe Männlichkeit, vermischt mit einem knorrigen Humor und den kleinen Gesten, in denen sich die gegenseitige Wertschätzung verrät. Die Mitbrüder wissen sich einer verschworenen Gemeinschaft zugehörig. Sie erlebten gerade in schwierigen Zeiten ihrer früheren Tätigkeiten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. Viele Geschichten, die sie sich gegenseitig in Erinnerung rufen, bestätigen das. Im Alter gehören dann auch Eigenheiten dazu und Narben und Einsamkeiten. Und es regt sich niemand auf, wenn während der Hl. Messe mal Schnarchtöne hörbar werden oder einer bei Tisch mit oft gehörten Geschichten gar nicht mehr aufhören will, oder wenn alles ein wenig länger dauert oder langsamer geht.
Was für mich zählt, sind die selbstverständlichen Zeichen der Brüderlichkeit: Bruder Wehner führt den Pater Beschorner in die Kapelle und bekommt dafür regelmäßig ein freundliches Lächeln und einen herzlichen Dank. So machen es auch die, die von Bruder Heurich oder einem anderen noch etwas beweglicheren Helfer auf dem Rollstuhl in die Kapelle gefahren werden.
Unser Hofdichter Pater Rendenbach erfreut die Runde zu den Jubiläen mit seinen Gedichten. Pater Zawacki weiß spannende Geschichten aus seinem bewegten Leben. Der stocktaube Pater Menzel versäumt keinen Gemeinschaftsabend und lächelt zufrieden und freundlich alle an.

Die Patres König und Kegebein, die äußerlich wie Pat und Patachon aussehen, drehen im Park miteinander ihre Runden und beten dabei den Rosenkranz. Und an zwei Abenden in der Woche spielen sie mit Bruder Beelte eine Art  Domino, das sich Rummikub nennt und den Verstand in Schwung hält.
Der erst vor wenigen Wochen verstorbene Pater Ogiermann, der sich
wegen seiner schwachen Augen manchmal vorlesen ließ, führte dann über das Gebotene Gespräche, die seine geistige Wachheit verraten haben.
Der ebenfalls vor kurzem verstorbene Pater Wanke hatte seinen Freund Pater Lachmund bis zu dessen Tod mit einer stillen Selbstverständlichkeit umsorgt.

Wenn Frauen oder Männer zu Exerzitien in unserem Haus weilen, werden sie gerne in ein neugieriges Schwätzchen verwickelt. Dabei erhalten sie nebenbei nützliche Kommentare zu den Exerzitien. Sie sind beeindruckt von der scheuen Herzlichkeit unserer alten Mitbrüder. Sie sehen, wie man bei uns im Orden in Frieden und Gelassenheit alt werden kann. Sie entdecken in den Runzeln und Hinfälligkeiten eine aufrechte Liebe zur Kirche und zum Orden. Kaum je habe ich Worte der Verbitterung gehört oder Anklagen, wohl aber die große Dankbarkeit gespürt, die aus vielen Gesten und Worten und Geschichten spricht. Die Hochachtung, die sie voreinander haben, fällt mir immer wieder auf.
Und wenn es mit einem Mitbruder zum sterben kommt, stirbt er nicht allein. Da finden sich die geübten Beter ein und sitzen abwechselnd am Bett. Sie sind einfach da, ohne große Töne, aber dafür in treuer Freundschaft. Das Pauluswort "Einer trage des andern Last" wird in unserem Haus eingelöst durch alte Menschen, die so auf ihre Weise einander wahrlich "Freunde im Herrn" sind.

Vitus Seibel SJ (aus Jesuiten 2005/4)