P. Erwin Bücken (GER)

*20.09.28, + 23.10.17, Eintritt 1947, Priesterweihe 1958, Letzte Gelübde 1964


P. Erwin Bücken hatte 37 Jahre lang den Job der „Altpapierverwertung“. So bezeichnete er den Beruf des Archivars. In dieser Zeit kannte ich ihn nur durch seltene Besuche in Köln und durch bisweilen skurrile Geschichten, die Mitbrüder über ihn oder von ihm zum Besten gaben. Richtig kennen gelernt haben wir uns erst, als er 1997 als Bibliothekar zu uns nach Berlin Kladow ins Seniorenheim kam.


Was ich über ihn hier berichten will, ist zusammengestellt aus seinen Notizen, aus Briefen, aus seinen Erzählungen während der Rekreation, aus Zwiegesprächen, aus Bemerkungen der Mitbrüder und aus so manchen Beobachtungen, die mir zu nachträglichen Interpretationen Anlass gaben. Ich persönlich denke, dass wir in Erwin Bücken ein (vielleicht verkanntes?) Original bei uns haben durften.

In einer Kurzbiographie erzählt er selbst einiges aus seinem Leben vor dem Ordenseintritt und danach. Bis wenige Jahre vor seinem Tod hat er darin auch immer wieder kleine Ergänzungen vorgenommen. Hinter den nüchternen Zeilen lassen sich manche aufregende Geschichten erkennen. Das fing schon mit seiner Geburt 1928 an. Er lag so leblos da, dass man ihn für tot hielt. Als er schließlich doch Lebenszeichen von sich gab, war man trotzdem der Meinung, dass man ihn nicht durchbringen könne. Als Sohn seiner von ihm zeitlebens hochverehrten Eltern Matthias und Anna, geb. Osthoff her es dann doch trotz mancher gesund­heitlichen Blessuren bis zum Alter von 89 Jahren geschafft. Sein geliebter älterer Bruder Helmut ist 1993 gestorben.

Erwin hatte als Kind abstehende Ohren. Er wurde deswegen in der Schule “Judenlümmel“ gerufen. Seine Eltern ließen deshalb seine Ohren operativ korrigieren.

Mit 16 wurde er zu den Luftwaffenhelfern eingezogen. Man konnte ihn da aber wegen seiner schwachen Nerven nicht brauchen. Inzwischen landete er mit der „Kinderlandverschickung“ in Ellwangen. Um dem Militärdienst zu entgehen, ließ er sich, immer noch 16, für eine Nazi-Sonderschule zur Förderung des naturwissen­schaftlichen Nachwuchses anwerben. Aber der Krieg war zu Ende und Erwin auf der Flucht. Schnell geriet er in französische Gefangenschaft, konnte jedoch nach acht Tagen entkommen. Im Herbst 1945 kehrte er nach Duisburg-Hamborn zurück und machte Ostern 1947 das Abitur.

Zum Ostertermin 1947 trat er in den Orden ein und durchlief, ohne dass er darüber viele Angaben machte, die damals in der Westprovinz übliche Ausbildung: 2 Jahre Noviziat in Burg Eringerfeld, 1 Jahr Juniorat und 3 Jahre Philosophie in Pullach, 2 Jahre Magisterium in Büren, 4 Jahre Theologie in Frankfurt und 1 Jahr Tertiat bei P. Pies in Münster. Die Priesterweihe war am 31. Juli 1958 durch den Apostolischen Nuntius Muench im Frankfurter Kaiserdom mit 27 Mitbrüdern.

Als bemerkenswert hielt er aus dieser Zeit aber doch zwei Punkte fest.

Einmal: Das Examen „ad gradum” hat er bestanden. Er hat aber darum gebeten, die Koadju­torengelübde ablegen zu dürfen. „Moralisch und intellektuell fehlten mir meines Erachtens dazu (zur Profess) die von Ignatius vorgesehenen „überdurchschnittlichen“ Voraussetzungen“. Das ist eine Haltung, die mir in unserem Orden nicht oft begegnet ist. Eher gab es Betrübnis, wenn die ersehnte Zulassung zur Profess nicht gegeben wurde.

Zum andern: Im Noviziat betete er in jugendlichen Überschwang darum, nach der Ausbildung eine möglichst wenig beachtete und geachtete Tätigkeit zu erhalten. In seiner Destination zum Provinzarchivar sah er eine Art Gebetserhörung, für die er dankbar war.

Konkret ging es da in seiner 37 Jahre dauernden Tätigkeit um 1500 Regalmeter Archivmenge. Man kann sich richtig vorstellen, wie er da in Arbeitskutte in seinem Reich herumwuselte. Er freute sich immer, wenn er Geschichtsforschern, die Stoff für ihre SJ-Themen suchten, durch Rat und Tat behilflich sein konnte. Ob die Mitbrüder sein Tun immer gebührlich zu schützen wussten, bleibe dahingesellt.

Er war aber nicht einfach eine graue Maus in den Verliesen des Archivs. Vielmehr war er eifrig in der Seelsorge tätig, wochentags im Haus für die Menschen aus der Nachbarschaft, später für Ordensfrauen verschiedener Klöster, sonntags in Kölner Pfarrkirchen.

Und natürlich war er auch der Hausbibliothekar. Darüber hinaus war er 17 Jahre als Ordensvertreter Mitglied der Kölner Diözesankommission für Liturgie und Kirchenmusik.

Bei seinen liturgischen Kenntnissen war es nicht verwunderlich, dass er für unsere Provinzen von 1967 bis 2009 das Direktorium erstellte, jedes Jahr Intensivwochen akribischer Präzisionsarbeit. Da ergaben sich dann auch manchmal Kontroversen mit ebenfalls peniblen Mitbrüdern, die einiges besser zu wissen glaubten als P. Bücken. Einige der entsprechenden hin und her gehenden Attacken schafften es dann auch durch den genervten Provinzial bis auf den Tisch der Provinzialskonferenz.

Von einem kleinen Hauch von Enttäuschung begleitet geschah dann auch die von ihm gewünschte Ablösung aus diesem Geschäft, und zwar deswegen, weil der Nachfolger das kunstvolle Druckerzeugnis radikal vereinfachte, und das außerdem natürlich auch nicht fehlerfrei, und weil die meisten von uns es dennoch zufrieden waren.

Eine weitere herausragende Arbeit war das Messbuch SJ. Es wird bis heute benutzt. Welche Mühe das Zustandebringen machte, konnte aus gelegentlichen Bemerkungen erschlossen werden.

Kirchenmusikalisch hat er sich Verdienste erworben um das Osterlob. Er hat die viel genauere und schönere Übersetzung P. Norbert Lohfinks mit einer verbesserten Melodie versehen, die die hergebrachte und von uns immer gebrauchte um Längen schlug (wenigstens meinte er das).

Seine aus der Gregorianik abgeleiteten Produktionen stellte er ins Internet (www.kantill.de). Hunderte Seiten Vertonungen der liturgischen „Kantillationen“ und -zig Seiten Kommentar kamen durch ihn ins Netz. Und viele Kassetten und CDs weit über die liturgischen Gesänge hinaus geben Zeugnis von seiner Kenntnis und Hochschützung der Musik.

Als er zu uns nach Kladow kam, versuchte er, uns liturgisch etwas gesitteter zu machen. Wenn er bei der hl. Messe den Vorsitz hatte, wirkte sich das so aus, dass er nicht nur eine Kurzansprache zum Evangelium hielt, sondern auch meist noch liturgische Belehrungen anzubringen versuchte. Aber drei Kurzansprachen in einer Messe waren dann doch auf die Dauer etwas zu viel. Als ihm Mitbrüder das zu verstehen gaben, zog er sich von der Konzelebration in die Einzelkonzelebration zurück.

Richtig“ und „falsch“ waren Kategorien, die für ihn wichtig waren. Hierher passt vielleicht gut, was er bei verschiedenen Gelegenheiten, wo es um unveränderlich scheinende Verhaltensweisen ging, als abschließendes Urteil in die Debatten warf: „Chromosomenal verankert“.

Theologisch bedeutete die Einteilung in richtig und falsch, dass nicht sehr viel Spielraum blieb für Pluralität der Gedanken. Was nicht in sein Raster passte, hatte es nicht leicht. Bis in manche Formulierungen hinein konnte er auf seiner Meinung beharren. Er liebte es, Behauptungen zu hinterfragen und Begründungen zu verlangen. Bei der Rekreation konnte das, nicht immer nur spaßeshalber, bis in die sprachforschenden Spitzfindigkeiten eines Karl Valentin gehen. Sachverhalte, die gar nicht mehr aufzulösen waren, wurden mit dem abschließenden Ausruf „merkwürdig“ belegt oder auch mit dem P. Karl Rahner zugeschriebenen Ausruf: „Bleiben Sie bei Ihrer Meinung. Für Sie ist sie gut genug.“

Gästen gegenüber, die bei uns zu Tisch waren, war er aufmerksam und liebenswürdig. Er konnte humorvoll sein. Uns Mitbrüdern gegenüber war er nicht gerade von einer hemdsärmeligen Distanzlosigkeit, sondern eher respektvoll und zurückhaltend. Das er gerne das „Sie“ beibehielt, ist dafür ein Beleg. Und er war kein Blender.

Als er als Bibliothekar zu uns kam, musste er ziemliche Unordnungen der verschiedenen Bücherstandorte und Unvollkommenheiten in der Registrierung der Bücher feststellen. Hinzu kam dass mit der Aufhebung des Tertiats auch die so genannten Tertiatsbibliothek erheblich reduziert werden musste. Für eine vollständige Neuordnung hätte es, wie er ausrechnete, 20.000 Karteikarten gebraucht. In diesem Punkt sprang er dann doch über seinen Schatten: „Weil mich das total überfordert hätte, habe ich es erst gar nicht begonnen“. Er ließ sich ermutigen, viele alte und überholte Bestände antiquarisch zu verscherbeln. Auf der anderen Seite hat er aber die vorhandenen Bestände gut geordnet, einen Standortwegweiser angelegt und überall Registrierschilder angebracht, die ein langes Suchen überflüssig machen.

P. Bücken hatte sein Leben geordnet vom Großen bis ins Kleine: Ferien jahrzehntelang bei den Franziskanern in Füssen, Jahresexerzitien im Haus, genau geplante Wanderungen von Köln aus und später dann von Kladow aus. Auch der Tagesverlauf war genau geregelt von der Aufstehenszeit bis zur abendlichen Visite vor dem Allerheiligsten, dazwischen auch die täglichen Stimmübungen (die letzten Jahre allerdings nicht mehr). Und dass (nur als Beispiel) zum Frühstück ein Apfel gehörte, war genau so selbstverständlich wie abends ein alkoholfreies Bier gemischt mit kaltem Tee. Diese Regelmäßigkeiten scheinen ihm großen Halt gegeben zu haben in der Mühsal des Alltags.

Allerdings wurden diese Ordnungen und Regeln immer wieder durchbrochen durch gesundheitliche Handicaps. Er hat unter dem Stichwort „Anamnese“ zwei Din A 4 Seiten Krankheitsfälle zusammengestellt, die sich nahezu über sein ganzes Leben erstreckten. Darunter waren auch „dicke Brocken“ wie Operationen und 2010 der Hirnstamminfarkt. Sein Kommentar auf entsprechende Fragen: „Es könnte besser sein. Es könnte aber auch schlechter sein“. Aus gelegentlichen Bemerkungen konnte man entnehmen, dass es seine Ärzte mit ihm nicht immer leicht hatten, oder er mit ihnen.

Bei uns im Haus hat er aber seine Krankheiten nie zu einem Gesprächsthema gemacht, gegen die Gewohnheiten, wie sie in einem Altenheim üblich sind. über eigene Befindlichkeiten oder gar Unannehmlichkeiten hat er sich kaum ausgelassen. Allenfalls hätte er da auf besorgte Fragen, wie es ihm denn gehe, mit einem seiner bewährten Sprüche geantwortet: „Nicht gut, nicht schlecht, so mitten drin“.

Die letzten Jahre fühlte er sich zunehmend müde. Er ruhte nun auch öfter tagsüber. Die letzten Monate lebte er immer zurückgezogener. Ein kurzer Krankenhausaufenthalt konnte nicht viel helfen. Ihm wurde bewusst, dass es zum Sterben ging. Und das wollte er lieber in seiner gewohnten Umgebung durchstehen, betreut von unseren Pflegerinnen unter der Leitung von Sr. Simone. P. Superior Gundikar Hock hat ihm die Sterbesakramente erteilt. Bis ganz zuletzt war er ansprechbar. Etwa drei Stunden vor seinem Tod besuchte ich ihn:

P. Bücken, haben Sie Schmerzen?“ „Nein“. „Wir beten für Sie“. „Vielen Dank“. „Auf Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen!“

Sein Sterben war für mich bezeichnend für die Art seines ganzen Lebens: Er nahm sich nicht wichtig. Er war demütig. Er war dankbar.

Aber hier ist jetzt auch der Ort, über seine Frömmigkeit zu schreiben. Ich glaube, dass wir gar nicht richtig wahrnehmen, wie tief er in Gott verankert war und wie treu er sich täglich mühte, seine gläubige Antwort zu versuchen Gott gegenüber im Vertrauen, dem Nächsten gegenüber in der Liebe und sich selbst gegenüber in Ehrlichkeit.

In den „Ignatianischen Impulsen“ hat er sich geäußert zu seiner Beziehung zu Jesus Christus (Nr. 33) und zu seinem Beten (Nr. 68). Da hat er schlicht und tief ausgedrückt, wie seine religiöse Praxis aussah. Gelegentlich sagte er auch, wie viel er seinen Eltern an Hinführung zum Glauben verdankte. Später nannte er in diesem Zusammenhang auch die Namen von Mitbrüdern, so von Erich Przywara, Albert Steger und vor allem Otto Pies. Selbstverständlich hielt er sich auch durch die Lektüre der entsprechenden Publikationen auf dem Laufenden.

Er bastelte seit vielen Jahren an seiner „Kurzformel des Glaubens“ herum. Bis in Feinheiten hinein versuchte er seinen Text zu vervollkommnen. Gelegentlich legte er ihn mir vor. Hier eine seiner letzten Fassungen:

WAS WÄRE OHNE

Ohne einen allmächtigen Schöpfergott kein Dasein und Sosein der evolutionären Welt.

Ohne die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth keine einmalige Vollmacht und Gottverbundenheit Jesu

 in seinem Leben, Wirken und Predigen.

Ohne die Sendung Jesu von seinem und unserem Vater keine Verkündigung und Bezeugung der unbedingten

Vergebungsbereitschaft Gottes bis in den Tod am Kreuz.

Ohne die Auferstehung Jesu keine Entstehung und unaufhaltsame Verbreitung des Osterglaubens an Jesu

Erhöhung zur Rechten des Vaters.

Ohne Sendung und Beistand des Heiligen Geistes keine Entstehung und Ausbreitung der Kirche trotz häufigen

Versagens an Haupt und Gliedern.

Ohne ewiges Leben kein bleibender und unverlierbarer Sinn und Gewinn für getreue Nachfolge Jesu durch

dankbar gelebte Gottes- und Nächstenliebe in Freude und Leid.

Ohne Endgericht keine letztgültige Verantwortung und Vergeltung für Gut und Böse, für Liebe, Hass und Neid.


Ich schließe diesen Nachruf mit den Gedanken, die P. Bücken in seiner Predigt zu seinem 50-jährigen Ordensjubiläum (2007) über die Zufriedenheit geäußert hat. Er meint, dass Zufriedenheit in unserem irdischen Leben ja nicht ohne Ernüchterungen und Enttäuschungen vorkomme. Was sie aber ausmache, sei, gerade darin zum Frieden zu kommen in der Vertrautheit mit Gott und seinem Sohn, zum Frieden zu kommen mit jedem von Jesus geliebten Menschen und zum Frieden zu kommen in der bedingungslosen Überantwortung an den auferstandenen Herrn Jesus.

In den Frieden und in die Freude seines Herrn ist Erwin Bücken heimgegangen.


Vitus Seibel SJ , Berlin, Nov 2017