Vitus Seibel SJ

Ignatius paradox, oder: Worauf es ankommt

Worauf kommt es an im Reich Gottes? Was könnte die Haltung sein, in der Menschen beim Aufbau
des Reiches Gottes mitmachen sollten? Wie hütet man sich dabei vor den Extremen eines falschen
Gottvertrauen und eines unerleuchteten Übereifers?
Sicher ist, dass wir immer wieder bei Jesus in die Schule gehen müssen, um zu lernen, worauf es
ankommt. Er erteilt seinen Leuten mit Worten und noch mehr durch das Beispiel seines Lebens und
Sterbens die Lektionen, die ihnen so schwer in die Köpfe und in die Herzen wollen: über den
Glauben und das Vertrauen, über das Danken und das Bitten, über das Dienen und das Verzeihen,
über die Freude und das Kreuztragen, über Selbstlosigkeit und Freiheit, über Gottes- und
Nächstenliebe, über Reden und Tun, über Kämpfen und Gewaltlosigkeit, über Umkehr und
missionarischen Geist, über Vorwärtsstürmen und Wartenkönnen, über Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit, über Toleranz und Entschiedenheit, über Tod und Auferstehung ...

Einer aus den vielen, die die Lektionen Jesu gut gelernt haben, ist der heilige Ignatius von Loyola.
Auf ihn geht ein Wort zurück, an dem sich ein wichtiger Aspekt des Handelns im Reiche Gottes
verdeutlichen lässt. Das Wort gibt es in verschiedenen Varianten.

Gewöhnlich wird das Wort in der griffigeren und selbstverständlicheren Form benutzt, etwa so:
"Handle so, als ob alles von dir, nichts von Gott abhinge. Vertraue so auf Gott, als ob alles von
Gott, nichts von dir abhinge." Aus einem solchen Wort lässt sich für das Handeln im Reiche Gottes
sicher Bedeutsames aussagen und vertiefen.
Ich möchte mich dazu aber lieber der anderen Lesart bedienen. Sie kommt mir aufregender und
provokanter vor, sogar ein wenig paradox: "Wir müssen so auf Gott vertrauen, als ob alles von uns,
nichts von Gott abhinge. Wir müssen unsere Kräfte aber so einsetzen, als ob alles von Gott, nichts
von uns abhinge."

Richtiges Gottvertrauen: sich herausfordern lassen zum Einsatz aller Kräfte
Im ersten Teil des Spruchs "Wir müssen so auf Gott vertrauen, als ob alles von uns, nichts von Gott
abhinge" verbirgt sich die Frage nach unserem Gottesbild. Wie vertrauen wir? Nicht wenige
Christen halten Gott - vielleicht unbewusst - für eine Art Oberzauberer. Sie trauen ihm alle
möglichen Tricks zu, durch die er mit unseren Problemen und Schwierigkeiten fertig werden könne,
ohne dass wir selbst uns groß in Unkosten stürzen müssten. "Der Papa wird's schon richten" mit
seinem Reich. Da brauchen wir, die wir sowieso Nichtsnutze sind, doch keine Hand zu rühren. Wir
wären ja doch mit unseren eigenen Versuchen nur Stümper. Womöglich könnte man eine solche
Haltung noch als religiöse Tugend ausgeben, weil sich darin ein Gottvertrauen zeigen würde, das
ihm alles in die Hände legt. Das alles ist fast richtig und doch haarscharf daneben. Die Hände in den
Schoß zu legen ist nicht die Art, in der man Gott die Ehre gibt.
In der ersten Hälfte des Spruchs ist vielmehr gesagt, dass Gott durch uns wirken will. Er hat uns ja
nicht in eine Unmündigkeit geschaffen. Er schenkt dem menschlichen Geschöpf Verstand und
Freiheit. Diese Gaben sind gegeben, um sie zu gebrauchen. Es ist keine schlimme, überhebliche
Sache, aktiv zu sein. Gott ruft uns in die Verantwortung, wie es im Gleichnis von den Talenten (Mt
25,14-30 par) gesagt ist. Das größte Vertrauen auf Gott hat der, der sich von ihm herausfordern lässt
zum Tun. Die geschenkte Freiheit will umgemünzt sein in Dienst. Es geht darum, dass uns Gott
gebrauchen möchte, im Namen Jesu seine Gedanken in dieser Welt zum Aufleuchten zu bringen.
Taugliche Werkzeuge sollen wir sein zu seiner größeren Ehre. Unser Engagement soll helfen, ihn
zu suchen und zu finden. Das Vertrauen, das Gott in uns setzt, sollen wir nicht enttäuschen durch
Nichtstun.
Das läuft manchen unseren Lieblingsideen zuwider. Zwar sind wir gerne aktiv, aber in eigenen
Diensten. Unser Habenwollen, unser Geltenwollen und unser Obenaufseinwollen sind mächtige
Antriebe. In der Arbeit für das Reich Gottes aber stehen nicht Egoismen, Angeberei und
Ausbeutung auf dem Programm. Gott hat uns vielmehr dazu befreit, Menschen für andere zu sein.
Wir sind gerecht gemacht, um sensibel zu werden gegen Unrecht und für Gerechtigkeit in der Welt,
besonders im Einsatz für die, denen übel mitgespielt wird. Wir sind eingeladen, Versöhnung zu
üben, weil wir selbst, obwohl Sünder, Versöhnung erfahren dürfen.
So wie es die Versuchung gibt, mit Berufung auf Gott alles ihm zu überlassen, so gibt es auch in der
"Welt" viele, die uns einreden wollen, alles ihnen zu überlassen. Sie versuchen, uns beizubringen,
dass sie die Profis seien: Der Kirche würde es ja doch an Kompetenz fehlen, wenn sie sich um die
vorletzten Dinge kümmert (die Dinge dieser Welt nämlich, die in den Augen der Profis die einzig
wichtigen sind). Kümmert ihr Christen euch um die Letzten Dinge, da richtet ihr mit eurer Naivität
oder eurem Fanatismus keinen Schaden an. Also zurück mit euch in die Sakristei oder ins fromme
Gebet! Aber von den Geschäften der Welt lasst gefälligst die Finger.
Auch kirchenintern kann man des "Horizontalismus" verdächtigt werden. Man unterstellt damit eine
flache Mitmenschlichkeit, eine Beschäftigung mit vermeintlichen Nebensachen wie sozialer Arbeit
(so direkt sagt man es nicht, aber in diese Richtung geht es). Auch von daher entsteht noch einmal
die Tendenz, sich in die Nischen einer folgenlosen Frömmigkeit und einer spirituellen Bravheit
zurückzuziehen. Auf Gott vertrauen heißt, sich senden zu lassen, heißt, sich vom Geist Gottes
antreiben zu lassen, diese Welt zu verändern, wo sie auf ihrer Gottesverweigerung beharrt. Auf Gott
vertrauen heißt, sich einzumischen mit aller Kraft, damit der Wille Gottes geschehe nicht nur im
Himmel, sondern auch auf Erden.

Richtiges Tun: sich herausfordern lassen, Gott alles in die Hände zu legen

Der zweite Teil des Spruches ("Wir müssen unsere Kraft aber so einsetzen, als ob alles von Gott,
nichts aber von uns abhinge") wendet sich gegen die allzuständigen totalen Macher, die genau zu
wissen scheinen, was es mit dem Reich Gottes auf sich hat, und die überzeugt sind, dass ohne ihre
Aktivitäten alles zusammenbrechen müsste.
Bei der Mobilisierung unserer Kräfte geht es aber weder um einen Fortschritt um jeden Preis noch
darum, dass der Mensch sich als letzte Instanz aufspielen müsste. Wenn er sich durch nichts und
niemanden bremsen lässt, kommt es eher zu Horrorszenarien als zum Kommen des Reiches Gottes.
Ein totaler Macher weiß sich über ethische Bedenken erhaben. Rücksicht auf die Schwachen nimmt
er nicht wirklich. Der gute Zweck heiligt dann auch schlechte Mittel. Wer sich selbst zum Maß aller
Dinge macht, verliert jedes Maß und ist bereit, über diejenigen Gewalt zu bringen, die seine
Maßstäbe nicht teilen. Ein leidvolles Kapitel in der Geschichte auch des Christentums führt zur
schrecklichen Erkenntnis, dass Religion und Gewalt nahe beieinander liegen können, wenn man
Gottes Auftrag missversteht, sich die Erde untertan zu machen oder Menschen zu missionieren.
Wer in seinem Tun Gott vergisst - mag er ihn auch noch so groß im Mund führen (oder auf dem
Koppelschloss) -, handelt nicht mündig oder befreit oder verantwortlich, sondern willkürlich und
zerstörerisch.
Worum es geht, ist vielmehr Folgendes: Wir dürfen uns Gott verdankt wissen, der uns in aller Liebe
zuvorgekommen ist. Das kann die Verbissenheit aus unseren Aktionen nehmen. Wir müssen nicht
meinen, dass das Reich Gottes nicht gelingt, wenn wir nicht eigenhändig und sofort alles reparieren,
was schief geht. Wir Menschen brauchen nicht den Kopf zu verlieren und hysterisch zu werden,
wenn wir bei manchen Entwicklungen, die immer bedrängender werden, nicht mehr weiter wissen.
Unsere Antwort auf die Herausforderungen muss nicht in immer größerer Hektik bestehen.
Wer sich in seinem Sinnen und Trachten von Gott gehalten weiß, braucht nicht verbiestert
umherzulaufen, als ob er ganz persönlich an allem Elend der ganzen Welt schuld sei. Er muss in
seiner Freudlosigkeit auch nicht ein ständiger Vorwurf sein für die anderen, die den Ernst der Lage
noch nicht begriffen haben und deswegen nicht ständig mit Leichenbittermiene herumgehen. Man
soll schon alles tun, aber im Glauben, dass der Herrgott letzte Instanz bleibt und dass er uns in
Treue zugetan bleibt trotz des Unheils, das wir in dieser Welt vorfinden und an dem wir oft selbst
mitwirken. Es braucht uns nichts von dem, was hier los ist, zu Tode zu ängstigen.
Wer in Gott verankert ist, kann gelassen seinen Dienst tun. Gerade weil die Welt für die Christen
nicht das Letzte und Höchste ist, können sie angemessen ihren Weltdienst leisten in nüchterner
Tapferkeit.
So kann schließlich eine Haltung entstehen und immer mehr wachsen, die engagierten Ernst und
heilige Sorglosigkeit in fruchtbringender Spannung zu kombinieren weiß. Keine schlechte
Mischung, wie mir scheint, damit das Reich Gottes komme.

Aus: entschluss 52 (1997), H.11, 25-27.